[Ein Kommentar von Tobias Eichner, tobias@14all-magazin.com]
Ich hätte es nie für möglich gehalten, einmal selbst „Früher war alles besser“ zu sagen. Doch jetzt tue ich es und sogar mit der innigen Überzeugung, dass mir viele Leser zustimmen werden:
Früher war das World Wide Web ein besserer Ort!
Wertvolle Informationen zu den ausgefallensten Themen warteten an jeder Ecke, für alle Anliegen gab es Diskussionsforen mit kompetenten Teilnehmern. Kurzum: Man lebte eine Kultur des gegenseitigen Helfens. Jeder in seinem Fachgebiet.
Es war einmal…
Am Beginn meiner Karriere als Webdesigner und Softwareentwickler brachte ich mir vieles in Eigenregie bei. Fachbücher waren teuer, der Zugang zum Web zwar auch, dafür aber stets verfügbar.
In diversen Foren und Nutzergruppen lernte ich binnen Wochen, was mich das Studium der Wirtschaftsinformatik nicht in Monaten lehrte.
Natürlich war es klar, sich für diese Hilfe zu revanchieren. Bald gehörte ich nicht mehr selbst zu den Rookies, sondern konnte andere unterstützen. Zugegeben, das streichelte mein Ego. Aber das Beste daran: Fehler wurden korrigiert und erklärt. Es war eine Community. Heute ein überstrapaziertes Substantiv für eine unspezifische Nutzeransammlung im Web. Damals galt dies noch etwas.
Ich möchte die damalige Zeit sicher nicht glorifizieren. Idioten, die nichts außer einen Computer bedienen können, gab es leider schon immer; aber die positiven Erfahrungen überwogen definitiv.
Vielleicht… nein bestimmt lag es auch daran, dass man selbst noch etwas auf dem Kasten haben musste, um überhaupt „ins Netz“ zu kommen. Dazu gehörte neben einem (nicht selbstverständlichen) Computer auch ein wenig fachliches Hintergrundwissen.
Und natürlich Interesse an der Technik selbst. Denn das Internet – das war etwas, was man erst einmal erklären musste. Auch, warum man sich dort überhaupt rumtreiben sollte – im Alltag war das Web allenfalls bei Wissenschaftlern und Informatikern angekommen.
Andere kannten es nur vom Hörensagen und aus abstrus entstellten Berichten der Regenbogenpresse, die im Netz nur einen Tummelplatz von allerlei gesetzlosem Gesindel sahen.
Hauptsache Sex?
Und heute? Sex. Überall. Naja, immerhin etwas. Danach musste man früher zugegebenermaßen einige Zeit suchen, auch wenn viele Suchmaschinen freimütiger darüber Auskunft gaben. Nur traute sich noch niemand so recht, die bewussten Begriffe einzutippen (oder kannte sie). Anderes Thema.
Das Web hat zweifelsohne eine Menge bewegt. Ohne pathetisch klingen zu wollen, aber die Menschheit ist dank des Internets zusammengewachsen; unüberwindbar scheinende kulturelle Hürden lösen sich immer mehr auf. Ein neuer Humanismus ist im Entstehen.
Unternehmen – ob internationaler Konzern oder Hinterhofwerkstatt – profitieren von unserer vernetzten Informationsgesellschaft und können sich einfacher denn je neue Märkte und Kundengruppen erschließen.
Auch Freundschaften werden heute online geschlossen. Wer früher unerreichbar schien, ist im digitalen Zeitalter nur noch einen Mausklick weit entfernt. Ich möchte sogar soweit gehen, zu behaupten:
Ohne Internet & Co. wäre unsere Gesellschaft nicht so fortschrittlich und weltoffen wie sie es heute in weiten Teilen ist.
Echte Hilfe – weit gefehlt!
Vor kurzem hatte ich jedoch ein Schlüsselerlebnis. Wieder eines. Aber manchmal braucht es eben einen ganzen Schlüsselbund, um das Offensichtliche zu begreifen:
Ich wollte ein sehr spezielles Feature in einem Content Management System realisieren, dabei brauchte ich Unterstützung. Überhaupt, vielleicht hatte ja jemand eine adaptierbare Lösung parat. Warum das Rad zweimal neu erfinden, nur um später festzustellen, dass es unrund läuft?
Gesagt getan. Das offizielle Nutzerforum im Web angesteuert und nach Hilfe gesucht. Nichts. Naja, aufgrund der Komplexität meines Vorhabens nicht weiter verwunderlich. Also einen neuen Thread eröffnet, das Problem dargelegt und, soweit möglich, technisch detailliert erläutert. Man weilt ja unter Experten.
Nach einer Stunde kam prompt die erste Antwort: „SuFu benutzt und Forenregeln gelesen?“. Nun wäre es an der Zeit, sich abzumelden und andernorts auf die Suche nach den benötigten Informationen zu gehen. Oder einen Freund anzurufen, der im gleichen Bereich arbeitet. Aber nein. Ich verschwendete meine teure Arbeitszeit und ließ mich auf eine Diskussion ein, die natürlich zu keinem produktiven Ergebnis führte.
Geraume Zeit danach – einschließlich entdecken des „User ignorieren“-Buttons – traf der nächste Ratschlag ein: „Mein Plugin kann das. Kannst Du kaufen.“. Das ist zwar nett gemeint, war aber nicht Ziel der Frage. Ich schildere doch nicht in epischem Ausmaß mein technisches Problem, um ein halbgares, nicht auf meine Bedürfnisse zugeschnittenes, überteuertes Plugin zu kaufen.
Also wies ich freundlich darauf hin, dass ich selbst Entwickler sei und es gute Gründe für eine individuell programmierte Lösung gäbe. Vom Plugin-Autor keine Antwort mehr. Dafür fühlte sich einer seiner Fanboys offenbar auf den Schlips getreten und erklärte mir, weshalb dieses Plugin so toll sei, es nichts Besseres gäbe und ich überdies keine Ahnung hätte. Außerdem bräuchte eh niemand das wonach ich suchte. Aha. Klar.
Und dann waren da noch zwei Antworten… ich bin nicht so recht schlau daraus geworden: War es eigene Dummheit oder der Versuch, mich bewusst auf eine falsche Fährte locken zu wollen. Schade, dass offenbar manche selbsternannten Experten dies nötig haben.
(A-)soziale Medien
Zur Entspannung – und um meinen Blutdruck wieder auf ein gesundes Maß zu senken – schaute ich mal bei meinen „Freunden“ in Facebook vorbei. Zugegeben, die Hälfte kenne ich nur dem Namen nach, einige davon auch gar nicht. Im Grunde hatte ich mich dort nur registriert, um als ITler mit den Noobs (normalen Usern) ein gemeinsames Gesprächsthema zu haben.
Also schön. Nach dem Login wurde ich bereits angestupst (die wohl dümmste Funktion in Facebook) und bekam einige semi-professionelle Fotografien diverser Mittagessen zu sehen. Auch eine – aus urheberrechtlicher Sicht bedenkliche – Bildercollage samt „Hab Dich lieb“-Spruch wurde mir präsentiert. Den kannte ich gar nicht. Also die Person… der Spruch an sich war schlicht platt und voll eklatanter Rechtschreibfehler – er könnte dem Poesiealbum einer Zehnjährigen entsprungen sein.
Darauf folgte eines dieser fürchterlichen Katzenvideos (ich oute mich an dieser Stelle als jemand, der eine starke Antipathie gegen Katzen hegt). So unsagbar süß und übertrieben putzig – ich bin Vegetarier und engagierter Tierschützer – aber dieses Vieh wollte ich am liebsten als Bettvorleger sehen.
Am Ende meiner Tour erfuhr ich noch, dass eine entfernte Bekannte gerade zwei Wochen lang im Urlaub weilt, am Strand liegt und einen „Bienacollata“ schlürft (muss eine unbekannte lokale Spezialität sein)… wen verdammt nochmal interessiert das? Naja, außer einen Einbrecher, der dank vorhandener Profildaten binnen Minuten die Straßenadresse ausfindig machen könnte.
Moment mal. Es gibt doch auch auf Facebook „Gruppen“. Ja, sogar über Programmierung und anderen technischen Kram, der vielen Nutzern dieser Einrichtung wie der Blick in ein Uhrwerk vorkommen müsste. Genau: Facebook ist der neue Hort der Intelligenzija! Ja, von wegen.
In diesen Gruppen schilderte ich mein Anliegen gar nicht erst. Nach einigem Stöbern kam ich nämlich zu dem Schluss, dass mein Ego dafür nicht aufgebläht genug war. Jedes zweite Posting stank vor Eigenlob und Selbstbeweihräucherung, der Rest waren Anfragen für „Kooperationen mit ungewissem Ausgang“ 1] oder dümmliches Buzzwording. Und überhaupt gab es für jeden nur einen richtigen Weg – den eigenen.
1] So nenne ich gerne Anfragen von Glücksjägern, neudeutsch Entrepreneurs, die glauben, mit einer vagen Idee und ohne jegliche Erfahrung ein Multimillionen-Business auf die Beine stellen zu können. Irgendwo läuft bestimmt ein dummer Entwickler herum, der sich für ein paar wertlose Versprechen und noch wertlosere Unternehmensanteile die Nächte um die Ohren schlägt.
Was lernen wir daraus? Kommt darauf an…
Dieses Erlebnis hat mir (wieder einmal) bewiesen, dass man sich heutzutage nur noch auf sich selbst verlassen kann. Vielleicht eine Eigenart der IT-Branche, in der jeder versucht, die Früchte seiner Arbeit – sein angesammeltes Fachwissen – nur für sich selbst aufzusparen und mit niemandem zu teilen.
Inzwischen suche ich mir noch sorgfältiger aus, in welchen Foren und an welchen Fachdiskussionen ich mich beteilige:
Mein Engagement in Boards und Netzwerken hat alles in allem stark nachgelassen. Das ist einerseits schade, andererseits bewahrt es mich davor, einem dahergelaufenen Scriptkiddy erklären zu müssen, dass es etwas mehr braucht als zu wissen, wie man einen „Battle im Game Pock-Mo-Go gegen Jadahadu Irriwatschi“ für sich entscheidet.
Und natürlich überlege ich mir inzwischen auch, wem ich mit meinem Wissen und mit meinen Tipps weiterhelfe. Es gibt einige, aber das sind persönliche Freunde, die ebenfalls im IT-Bereich arbeiten und auf die ich selbst bei Bedarf zählen kann. Hoffe ich zumindest.
So baut sich also jeder seine eigene persönliche Community. Nur dieses Mal braucht es dazu das Web nicht mehr. Schade eigentlich.
Autor: Tobias Eichner | Datum der Veröffentlichung: April 2017 | Letzte Aktualisierung: März 2023 (05/2021)
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