„Was haben wir nur früher ohne Smartphone gemacht?!“ – dieser ursprünglich leicht witzig-ironisch gemeinte Spruch gewinnt in Zeiten von Digital- und Appzwang zunehmend an ernster Bedeutung.
Was bedeutet Digitalzwang eigentlich?
Unter dem Begriff „Digitalzwang“ versteht man die Pflicht zur Nutzung digital bereitgestellter Dienste über Computer und Smartphones, für die analoge und niederschwellig zugängliche Alternativen möglich wären.
Hier einige (leider reale) Beispiele:
- Abholstationen eines Logistikdienstleisters erfordern für die Herausgabe von Paketen eine App samt Registrierung.
- Konzerttickets sind nur per Buchungs-App erhältlich und stehen nach dem Kauf ausschließlich in dieser zur Verfügung (Smartphone muss bei der Veranstaltung mitgeführt werden, kein Weiterverkauf oder spontanes Verschenken möglich).
- Die rabattierte Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel erfordert eine App.
- Bankkonten lassen sich nur per App verwalten (nicht einmal mehr über die Website der Bank).
- Steuererklärungen in Papierform sind nur noch bedingt möglich (ausgenommen Härtefälle nach behördlicher Genehmigung).
- Der Kontakt zum persönlichen Kundenservice einer Versicherungsgesellschaft zwingt vorab zur zeitaufwändigen Nutzung von Chatbots.
- Das neue Smartphone lässt sich nur nach Online-Registrierung beim Hersteller nutzen.
Zum Glück kann man die Feuerwehr noch ohne vorherigen App-Download rufen… 😉
Fällt alles Digitale unter diesen Begriff?
Nein. Es geht hier nicht um Apps für das Sammeln von Bonuspunkten, das Archivieren von Kassenbons oder Mini-Rabatte beim Einkaufen. Dadurch wird niemand ernsthaft von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen oder erleidet anderweitig gravierende Nachteile.
Sobald jedoch Produkte und Dienstleistungen ohne Grund ausschließlich digital angeboten werden oder die Nutzung analoger Optionen nur mit einem erheblichen Aufwand (bzw. Zusatzkosten) verbunden ist, spricht man von Digitalzwang.
Auch die Tatsache, dass viele Apps nur über die offiziellen App-Stores der Gerätehersteller bezogen werden können, fällt in die Kategorie Zwang. Vor allem, da ohne vorherige Registrierung samt Preisgabe persönlicher Daten in den Stores nichts geht.
Was Digitalzwang zum Problem macht…
Nicht jeder möchte (oder kann) sich ein Smartphone samt dem dazu passenden Mobilfunktarif leisten. Hinzu kommt, dass Smartphones wandelnde Wanzen sind:
Trägt man sie ständig bei sich, verraten sie nicht nur die aktuelle Position, sondern – je nach installierten Apps – viele weitere persönliche Daten. Auch das will nicht jeder und möchte sein Smartphone daher nur in bestimmten Situationen nutzen.
Der Digitalzwang bedeutet für viele eine riesige Herausforderung: Wenn ohne App nichts mehr geht, dann werden Menschen vom sozialen Leben ausgeschlossen oder es wird ihnen zumindest schwieriger gemacht, bestimmte Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.
Selbst wenn Sie sich zu keiner dieser Gruppen zählen (und ob der Digitalskepsis mancher sogar etwas schmunzeln müssen), wirkt sich der Zwang zur App negativ auf Ihr Leben aus…
Es ist nämlich nicht mehr nur „Ihr“ Leben, denn von Werbetreibenden bis hin zu staatlichen Organisationen werden über Apps und Smartphones personenbezogene Daten gesammelt, aus verschiedenen Quellen zusammengeführt, gespeichert und schließlich ausgewertet:
- Positionsdaten und Bewegungsprofile (Ortung über Mobilfunk, WLAN, Bluetooth und NFC sowie spezielle Techniken wie „stille SMS“ und Nutzung von IMSI-Catchern)
- Kommunikation (Verbindungsdaten und Inhalte, z.B. bei SMS und nicht Ende-zu-Ende-verschlüsselten Messenger-Diensten)
- Kontakte aus dem Adressbuch, Fotos und Videos aus der Galerie (je nach Berechtigungen der Apps)
- persönliche Vorlieben, Schwächen und Verhaltensweisen (z.B. durch Analyse der Browser-Historie, des Chatverlaufs oder der App-Nutzung)
Sich diesen Machenschaften zu entziehen ist zwar theoretisch möglich, aber technisch aufwändig und oft mit Komforteinbußen in der Nutzung verbunden.
Hinzu kommt, dass viele Smartphones von ihren Besitzern nur unregelmäßig mit Updates versorgt werden. Das macht es Hackern und anderen nicht autorisierten Personen leicht, an persönliche Daten zu kommen. In vielen Fällen unbemerkt – bis es zu spät ist. Einmal gestohlene Daten lassen sich nicht wieder zurückholen, was für die Opfer nicht nur finanzielle Schäden bedeutet, sondern oft mit einer psychischen Belastung einhergeht.
Gleichberechtigte digitale wie analoge Optionen
All das wäre gar nicht nötig, würden Unternehmen und Organisationen aufhören, dem Trend „digital-only“ blind zu folgen und zumindest zweigleisige Lösungen – mit und ohne App – anbieten.
Auch zeitraubende Services wie dumme Chatbots und das (zumindest manchmal) nervenaufreibende Hangeln durch mehrere Menü-Ebenen eines Telefoncomputers machen nur in Ausnahmefällen Sinn.
Alternativen oft nicht gewollt
Die Verfechter rein digitaler Dienste argumentieren vorgeblich mit Kosteneffizienz und höherem Nutzwert. In Wirklichkeit geht es aber um Gewinnmaximierung, Kontrolle und die maximal mögliche Ausbeutung der gesammelten Daten.
Das Argument, Smartphones – samt den dazugehörigen offiziellen App-Stores – seien schon längst „marktüblich“, ist schlichtweg falsch. Anderenfalls müsste man über die gesetzliche Pflicht zum Mitführen eines Smartphones auf politischer Ebene diskutieren. Eine Dystopie!
Unser Fazit
Die meisten Menschen werden sich digitaler Technik nicht völlig verschließen, möchten sie aber selbstbestimmt verwenden.
Es muss also die persönliche Entscheidung jedes Einzelnen sein, digitale Prozesse wahrzunehmen – oder auch nicht. Und zwar ohne Einschränkungen hinsichtlich der Verfügbarkeit von Angeboten.
Außerdem gibt es genügend Gründe, auf eine allzu extensive Nutzung von Smartphones und anderer digitaler Gadgets zu verzichten. Und das müssen Unternehmen wie staatliche Stellen anerkennen.
Autor: Tobias Eichner | Datum der Veröffentlichung: November 2023
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